Kulturwandel von innen: Der Regelkreis aus Haltung - Verhalten - Erfahrung als Fundament für Start-Ups und KMUs
- Christoph Bally
- 12. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Juni
In einer Zeit, in der sich Märkte rasant verändern, Geschäftsmodelle disruptiv erneuern und MitarbeiterInnen zunehmend Sinn, Identifikation und Entwicklungsmöglichkeiten suchen, wird die Gestaltung der Unternehmenskultur zu einer zentralen Führungsaufgabe. Gerade für Start-Ups und kleine bis mittlere Unternehmen (KMUs) ist eine tragfähige Kultur nicht bloß ein „weicher“ Erfolgsfaktor, sondern die Grundlage für langfristige Resilienz, Innovation und Wachstum.
Oft wird versucht mit agilen Prozessen oder anderen new work Organisations-Modellen einen Change zu bewirken und diese Modelle haben durchaus ihre Berechtigung und ihren richtigen Platz.
Aus der Neurobiologie ist in diesem Zusammenhang ein einfacherer, aber tiefgreifender Mechanismus bekannt und zentral: der Regelkreis aus Haltung, Verhalten und Erfahrung.

Unter Unternehmenskultur kann sich jeder etwas vorstellen, hat davon vielleicht sogar ein sehr gutes oder eher schlechtes Beispiel, sie zu beschreiben, oder zu erklären, was an ihr besonders gut ist oder nicht, erscheint jedoch komplex.
Dieser schlichte Kreislauf beschreibt, wie Kultur entsteht, sich verfestigt oder verändert. Wer diesen Mechanismus versteht und gezielt einsetzt, kann Kulturentwicklung nachhaltig und von innen heraus gestalten – ganz ohne künstliche Motivationsprogramme, externe Change-Projekte oder kurzfristige buzzwords.
1. Der Regelkreis aus Haltung, Verhalten und Erfahrung – eine Einführung
Haltung: Die innere Landkarte
Unter „Haltung“ versteht man die inneren Überzeugungen, Werte, Denkmodelle und Grundannahmen eines Menschen – also das, was unser Weltbild prägt, wie sich unsere innere Landkarte aufgebaut hat. Haltung entsteht durch Erziehung, persönliche Erfahrungen und das soziale Umfeld. Sie wirkt meist unbewusst, ist aber äusserst wirksam: Sie beeinflusst, wie wir Situationen interpretieren, welche Optionen wir sehen und wie wir Entscheidungen treffen.
Beispiel: Eine Führungskraft mit der inneren Haltung „Mitarbeitende müssen kontrolliert werden“ wird andere Prozesse, Werkzeuge und Kommunikationsformen wählen als jemand mit der Haltung „Menschen wollen von sich aus einen Beitrag leisten“.

Verhalten: Das Sichtbare im Alltag
Verhalten ist die konkrete Ausdrucksform unserer inneren Haltung. Es zeigt sich in Sprache, Körpersprache, Entscheidungen, Prioritäten, Reaktionen auf Konflikte – kurz: in unserem Tun. In Organisationen sind es Prozesse, Routinen, Entscheidungswege oder der Umgang mit Fehlern, die Verhalten sichtbar machen.
Wichtig: Verhalten ist beobachtbar, aber nicht isoliert steuerbar. Es folgt einem inneren Muster – eben der zugrunde liegenden Haltung.
Erfahrung: Die Rückkopplung
Erfahrungen entstehen durch das erlebte Verhalten im sozialen Kontext. Wenn z. B. eine Mitarbeiterin in einem Meeting eine Idee einbringt und daraufhin abgewertet oder übergangen wird, wird sie diese Erfahrung internalisieren – was wiederum ihre Haltung gegenüber dem Unternehmen, der Führung oder der eigenen Offenheit beeinflussen kann. Erlebt die Mitarbeiterin diese Situation wiederholt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur sie keine Ideen mehr einbringt und an Identifikation mit der Führung und damit dem Unternehmen verliert, sondern auch jene, die die Abwertung selbst erleben oder mitbekommen.
Erfahrungen verstärken entweder bestehende Haltungen oder sie irritieren sie. Diese Irritation kann – wenn sie bewusst reflektiert wird – zu einem Lernprozess führen. Damit beginnt der Kreislauf von Neuem.
2. Kultur entsteht durch Wiederholung – oder Veränderung
Die Unternehmenskultur ist das Ergebnis dieses fortlaufenden Regelkreises – multipliziert mit der Anzahl der Beteiligten. Sie ergibt sich aus den vielen individuellen Haltungen, dem daraus resultierenden Verhalten und den kollektiven Erfahrungen, die im Unternehmen gemacht werden.
Das bedeutet: Kultur ist nicht „von oben“ gestaltbar, sondern emergent. Sie entsteht „von innen“ – durch das Zusammenspiel individueller und gemeinschaftlicher Prozesse. Jeder Mensch im Unternehmen trägt zur Kultur bei, aber die Haltung der Führungskräfte hat dabei eine überproportionale Wirkung, da sie den Ton für Verhalten und Erfahrung setzen.
3. Warum gerade Start-Ups und KMUs vom Regelkreis profitieren
Start-Ups und KMUs haben gegenüber großen Konzernen einen entscheidenden Vorteil: Nähe, Dynamik und Gestaltbarkeit. Strukturen sind flacher, Wege kürzer, persönliche Beziehungen enger. Dadurch lässt sich Kultur direkter und authentischer beeinflussen.
Gerade in der Gründungsphase eines Start-Ups wird der Grundstein der Unternehmenskultur gelegt – oft unbewusst. Die Haltung der GründerInnen gegenüber Themen wie Vertrauen, Risiko, Kommunikation, Fehler oder Führung wird schnell zum „Default-Modus“, den neue Teammitglieder übernehmen. Das birgt enorme Chancen – aber auch Risiken.
In KMUs, die häufig familiengeführt sind oder über Jahrzehnte gewachsene Kulturen mitbringen, lässt sich über diesen Regelkreis ebenfalls ansetzen – oft subtiler, aber nicht weniger wirksam. Statt mit strukturellen „Change“-Programmen zu intervenieren, können Haltung, Verhalten und Erfahrung gezielt als Hebel für Transformation genutzt werden.
4. Praktische Anwendung: So wirkt der Regelkreis in Organisationen
a) Kultur diagnostizieren
Die Frage lautet nicht: „Welche Werte stehen auf der Website?“ – sondern: „Was erleben Menschen hier wirklich?“ Die Diagnose der Unternehmenskultur beginnt mit der Beobachtung von Verhalten und der Reflexion von Erfahrungen.
Fragen zur Selbstdiagnose:
Wie wird mit Fehlern umgegangen?
Werden Entscheidungen transparent kommuniziert?
Erleben Mitarbeitende Sinn in ihrer Arbeit?
Dürfen Meinungen oder Kritik offen geäußert werden?
Wird Wertschätzung gezeigt – welche Leistungen oder welches Verhalten ist dem Unternehmen was wert?
Werden Erfolge gefeiert – gemeinsam?
Diese Beobachtungen geben Aufschluss über die gelebte Haltung im Unternehmen – auch wenn sie nie explizit formuliert wurde.
b) Haltung als Startpunkt ernst nehmen
Wirklicher Wandel beginnt nicht beim Verhalten, sondern bei der Haltung. Führungskräfte und GründerInnen sind eingeladen, sich selbst zu fragen:
Welche Grundannahmen habe ich über Menschen?
Traue ich meinem Team Verantwortung zu?
Wie gehe ich mit Unsicherheit oder Kontrolle um?
Wie gehe ich mit Fehlern um – eigenen und denen der anderen?
Was bedeutet für mich „Führung“ – und wie zeigt sich das in meinem Verhalten?
Solche Reflexion ist unbequem – aber der einzige Weg zu echtem Kulturwandel.
c) Verhalten konsequent ausrichten
Neue Haltungen zeigen sich im Verhalten. Deshalb ist es wichtig, „Proberäume“ zu schaffen: Räume, in denen neue Haltungen erlebbar werden dürfen – z. B. durch partizipative Entscheidungsformate, konstruktive Fehlerkultur, transparente Kommunikation.
Kleine Rituale können Großes bewirken: z. B. tägliche Check-ins, regelmäßige Retrospektiven, das bewusste Ansprechen von Widersprüchen (walk the talk).
d) Erfahrungen ermöglichen und reflektieren
Das entscheidende Element des Regelkreises ist die Erfahrung. Nur durch wiederholte, positive Erfahrungen können sich neue Haltungen stabilisieren. Deshalb müssen Organisationen Erfahrungsräume schaffen:
Projekte mit echter Verantwortung
Feedbackprozesse mit echter Offenheit
Konflikte als Lernchance statt als Bedrohung
Austauschformate, in denen auch Emotionen Platz haben
Wertschätzungsprozesse
Reflexion ist hier der Schlüssel: Was habe ich erlebt? Was bedeutet das für mein Bild von dieser Organisation, von Führung, von mir selbst?
5. Der Regelkreis als Kultur-Betriebssystem
Man kann sich den Regelkreis aus Haltung, Verhalten und Erfahrung als eine Art Betriebssystem für Organisationen vorstellen. Er läuft ständig – ob bewusst oder unbewusst. Der Unterschied liegt darin, ob wir ihn nutzen oder von ihm genutzt werden.
In vielen Organisationen laufen destruktive Kreisläufe unbewusst ab:
Eine misstrauische Führungskraft kontrolliert ihr Team (Verhalten),
Das Team fühlt sich demotiviert (Erfahrung),
Die Haltung „Ich werde nicht ernst genommen“ verfestigt sich,
Die Motivation sinkt weiter – und der Kreislauf verstärkt sich.
Doch der gleiche Regelkreis kann bewusst in eine konstruktive Richtung gelenkt werden:
Eine Führungskraft vertraut und überträgt Verantwortung (Verhalten),
Das Team erlebt Selbstwirksamkeit (Erfahrung),
Die Haltung „Ich kann hier etwas bewirken“ entsteht,
Motivation und Engagement wachsen – der Kreislauf verstärkt sich positiv.
6. Fazit: Kultur ist kein Projekt – sondern ein Prozess
Die Kultur eines Unternehmens lässt sich nicht „implementieren“. Sie ist kein Projekt mit einem Anfang und einem Ende. Sie ist das Ergebnis eines permanenten Regelkreises, der jeden Tag – durch jede Haltung, jedes Verhalten und jede Erfahrung – weitergeschrieben wird.
Für Start-Ups und KMUs liegt hier eine enorme Chance: Wer sich früh und bewusst mit diesem inneren Betriebssystem auseinandersetzt, legt die Grundlage für eine resiliente, vertrauensvolle und innovative Kultur – nicht durch Maßnahmen, sondern durch gelebte Haltung.
Dieser Regelkreis ist damit mehr als ein neurobiologisches Erklärungsmodell. Es ist ein praktischer Leitfaden für unternehmerische Kulturentwicklung, der dort ansetzt, wo echte Veränderung möglich ist: im Menschen.
Kurzformel zum Mitnehmen:
„Wenn du die Kultur verändern willst, verändere die Erfahrung. Um die Erfahrung zu verändern, verändere das Verhalten. Und um das Verhalten zu verändern, beginne bei deiner Haltung.“
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